Im Winter zieht sich die Natur zurück, um neue Kräfte zu sammeln. In der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) entspricht der Winter der Wandlungsphase Wasser – sie steht für Rückzug, Regeneration und Urvertrauen. Diese Zeit des „großen Yin“, der tiefen Stille und Dunkelheit, lädt uns ein, innezuhalten und auf das Wesentliche zu besinnen.
Die winterliche Atmosphäre bietet eine wertvolle Gelegenheit zur Selbstreflexion und Transformation: Wo stehe ich? Was ist mir wirklich wichtig? Was nährt mich und was blockiert mich? Worin finde ich tiefere Erfüllung? Was ist der wahre Sinn meines Lebens?
Doch diese Reise nach innen erfordert Mut: Der Winter lässt ungeliebte Aspekte deutlicher hervortreten – Ängste und innere Schatten wollen bewusst wahrgenommen und angenommen werden.
Die Konfrontation mit der Vergänglichkeit birgt die Chance, den gegenwärtigen Moment zu schätzen und sinnvoll zu gestalten.
Mögen die abschließenden Alltagstipps als Inspiration für mehr Achtsamkeit, Selbstfürsorge und Erneuerung Deiner inneren Kraftquellen dienen.
Wasser, das Element des Winters, repräsentiert die Essenz des Lebens und ist eine kraftvolle Metapher für unsere Seele. Es ist Ursprung und Quelle allen Seins, ein stetig fließender Strom, der alles durchdringt und erneuert. Auch wir Menschen bestehen größtenteils aus diesem kostbaren Lebensstoff.
Wasser lehrt uns Flexibilität und Anpassungsfähigkeit: Es nimmt jede Form an, ohne sein Wesen zu verlieren. Gleichzeitig zeigt es uns, wie wir Hindernisse umfließen und dabei unsere innere Stärke bewahren können. Wenn wir uns dem natürlichen Rhythmus des Lebens hingeben und mit seinen Wellenbewegungen fließen, vermeiden wir unnötige Anstrengungen und Leid.
Wasser bildet die Grundlage der fünf Wandlungsphasen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) – Holz, Feuer, Erde und Metall (siehe auch meine Beiträge zum Yin-Yoga und den weiteren Jahreszeiten). Es ist mit den Organen Niere und Blase verbunden, die für Regeneration, Stabilität und Durchhaltevermögen stehen.
Die Nieren gelten in der TCM als „Wurzel des Lebens“, sie beherbergen unsere Lebensessenz (Jing) – die Quelle unserer körperlichen und geistigen Vitalität.
Der Winter zeigt uns, wie essenziell es ist, diese Energie zu bewahren und zu regenerieren. Wie ein Samenkorn, das geschützt in der Erde ruht, dürfen auch wir uns zurückziehen, um unsere Lebenskräfte zu sammeln und im Frühling erneuert aufzublühen.
Nur wenn der Mensch des Äußeren beraubt wird wie Winter,
besteht Hoffnung, dass sich ein neuer Frühling in ihm entwickelt. (Rumi)
Das Wasserelement symbolisiert die Tiefe und Wandelbarkeit des Lebens. Es regt uns an, unter die Oberfläche zu blicken, um verborgene Facetten unseres Selbst zu entdecken. Oft verstellt uns spirituelles Nichtwissen (Avidya), unsere Phantasien und falschen Überzeugungen den Weg zu unserem wahren Selbst. Der Winter bietet die Gelegenheit, unser Selbstbild zu hinterfragen und den Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen, unseren Illusionen und Selbsttäuschungen, auf den Grund zu gehen.
Wer bist Du, wenn Du alle Rollen, Erwartungen und Konditionierungen loslässt?
Diese Frage erfordert radikale Ehrlichkeit und den Mut, auch den dunklen Seiten zu begegnen: Traurigkeit, Ohnmacht, Zorn, Überheblichkeit, Lieblosigkeit, Eifersucht, Neid, Scham oder Schuldgefühlen – und den zugrunde liegenden Ängsten.
Indem wir diese Schatten wahrnehmen, annehmen und Verantwortung dafür übernehmen, entziehen wir ihnen ihre Macht über uns und schaffen Raum für Transformation.
Mit Achtsamkeit und den yogischen Prinzipien von Satya (Wahrhaftigkeit) und Svadhyaya (Selbststudium) können wir tiefsitzende Glaubenssätze und Verhaltensmuster hinterfragen, die uns einengen oder nicht mehr dienen. Frage Dich wohlwollend:
Welche Aspekte Deines Lebens verdienen einen neuen Blick?
Wo lebst Du im Widerstand statt im Flow?
Welche starren Muster kannst Du auflösen, um freier und lebendiger zu sein?
Wie kannst Du Vertrauen in den Fluss des Lebens kultivieren und mehr Leichtigkeit zulassen?
Das Wasserelement vereint scheinbare Widersprüche, die uns an die Vielfalt und Tiefe des Lebens erinnern: ruhig und bewegt, sanft und kraftvoll, weich und hart, klar und trüb, warm und kalt.
Indem wir diese Gegensätze akzeptieren, nähern wir uns unserer Essenz und der unverfälschten Wahrheit darüber, wer wir wirklich sind. Wir erfahren Zugang zu unserer inneren Weisheit, tiefem Urvertrauen und der Kraft, authentisch unseren Weg zu gehen.
Ein zentraler Aspekt der Selbsterforschung ist die bewusste Wahrnehmung unseres Körpers und seiner subtilen Signale. Oft nehmen wir Verspannungen, Unwohlsein oder Erschöpfung als selbstverständlich hin, ohne sie als Botschaften unseres Körpers zu verstehen. Der Winter fordert uns auf, unseren Körper als Spiegel innerer Zustände zu erfahren und genauer hinzuspüren, was er uns sagen möchte.
Diese bewusste Selbstwahrnehmung geht über die klassischen fünf Sinne – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen – hinaus. Sie umfasst die Tiefenwahrnehmung, die sogenannte Propriozeption, sowie das Erspüren unserer inneren Prozesse.
Mit achtsamen Körperübungen wie im Yoga, einem Body Scan oder in der Meditation üben wir wahrzunehmen, wie wir uns im Moment fühlen – ohne zu urteilen. Diese Praxis lädt uns ein, Empfindungen, Emotionen und Gedanken neutral zu registrieren und als Ausdruck unserer aktuellen Verfassung anzunehmen.
In der Winterzeit ist es besonders wichtig, für Wärme, ausreichend Schlaf und eine achtsame Lebensweise zu sorgen, um Nieren und Blase zu stärken, die empfindlich auf Kälte und Erschöpfung reagieren. Kräutertees wie Brennnessel, Birkenblätter oder Schachtelhalm unterstützen diese Organe. Sanfte, langsame Bewegung hilft der Blase, gespeicherte Anspannungen loszulassen – sowohl auf körperlicher als auch auf emotionaler Ebene.
Mit liebevoller Selbstfürsorge und der Bereitschaft, die Bedürfnisse unseres Körpers wahrzunehmen, stärken wir den Fluss unserer Lebensenergie (Qi), unser Selbstvertrauen und unsere innere Stabilität. Die unten skizzierten Alltagstipps können dazu beitragen, diese innere Verbindung zu vertiefen und die Weisheit des Körpers zu würdigen.
In der TCM wird der Wandlungsphase Wasser die Emotion Angst zugeordnet. Angst erfüllt eine lebensrettende Schutzfunktion: Sie warnt uns vor Gefahren und befähigt uns, auf reale Bedrohungen zu reagieren.
In winterlicher Stille treten Ängste oft deutlicher zutage – etwa vor Verlust, Veränderung oder Unsicherheit. Es erfordert Mut, Geduld und Selbstmitgefühl, diesen Ängsten zu begegnen, anstatt vor ihnen davonzulaufen.
Vermeidung, Widerstand oder Verdrängung können die Angst verstärken, während eine bewusste Konfrontation und Akzeptanz dazu beitragen, unsere inneren Ressourcen zu mobilisieren.
Regelmäßige Selbstreflexion, Atemübungen und Meditation fördern die Balance zwischen gesunder Vorsicht und tiefem Urvertrauen.
Angst manifestiert sich häufig auf körperlicher Ebene: Muskelverspannungen, Verdauungsprobleme, Herzklopfen, Schweißausbrüche, flacher Atem oder Schwindel können Hinweise sein. Auch emotional erleben wir die Auswirkungen – als innere Unruhe, Gereiztheit, Überforderung oder Hilflosigkeit.
Achtsamkeit bietet einen wirkungsvollen Ansatz, um diese körperlichen Empfindungen, Gedanken und Gefühle wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten. So können wir klar erkennen, ob die Angst im gegenwärtigen Moment gerechtfertigt ist oder durch vergangene Erfahrungen bzw. unbegründete Sorgen getriggert wird.
Es ist wichtig, zwischen Angst, die uns schützt, und übersteigerter Angst, die uns lähmt, zu unterscheiden. Letztere kann als Angsterkrankung auftreten – etwa in Form von Panikstörungen, Phobien oder posttraumatischen Belastungsstörungen. In solchen Fällen ist professionelle Begleitung unerlässlich, doch auch hier kann die Praxis der Achtsamkeit eine wertvolle Unterstützung bieten, um die Verbindung zu sich selbst zu stärken.
Nutze die Winterzeit, um Dich mit Deinen Ängsten auseinanderzusetzen und Dir folgende Fragen zu stellen:
Wovor hast Du Angst? Vor dem Unbekannten, Neuen oder Unbequemen? Vor Verletzung oder Hilflosigkeit? Vor Ablehnung und Einsamkeit?
Was verbirgt sich hinter Deiner Angst vor Veränderungen?
Welche inneren Ressourcen kannst Du stärken, um wieder Vertrauen in Dich selbst und das Leben zu finden?
Die Wandlungsphase Wasser erinnert uns daran, dass Angst und Vertrauen zwei Seiten derselben Medaille sind.
Unser Ego (Asmita) hat Angst vor der Ungewissheit des Lebens – der eigenen Vergänglichkeit, dem Gefühl von Bedeutunglosigkeit, der Sinnlosigkeit und schließlich vor dem Tod. Doch dieser ist unausweichlich. Was nach der körperlichen Auflösung folgt, bleibt ungewiss. Eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dieser Urangst (Abhinivesha) führt uns weniger zur Frage nach einem Leben nach dem Tod, sondern vielmehr zur zentralen Überlegung: Sind wir im Hier und Jetzt wirklich lebendig? Oder halten uns Vergangenheit und das endlose Verschieben auf später davon ab, das Leben in seiner vollen Tiefe zu erfahren?
Unsere Kultur neigt dazu, Alter und Tod zu tabuisieren. Der Traum von ewiger Jugend, Schönheit und Gesundheit treibt nicht nur ein lukratives Geschäft an. Er prägt Ideale, die Allmachtsphantasien hervorrufen und fragwürdige Maßnahmen zur Verzögerung des Unvermeidlichen begünstigen. Trotz dieser Verdrängung bleibt die Angst vor dem Tod im Unterbewusstsein präsent. Paradoxerweise führt uns häufig gerade die Konfrontation mit dem Tod – sei es durch Verlust, Krankheit oder persönlichen Krisen - zur Erkenntnis, wie kostbar das Leben wirklich ist.
In der yogischen Philosophie ist der Tod keine Bedrohung, sondern Anstoß zur Transformation. Indem wir die Endlichkeit des Lebens annehmen, können wir den gegenwärtigen Moment bewusster und sinnerfüllter erleben. Der Lebensfluss bewegt sich im natürlichen Kreislauf von Werden und Vergehen. Krankheit, Sterblichkeit und Vergänglichkeit sind untrennbare Teile unseres Daseins. Der Winter, als Jahreszeit des Rückzugs und der Besinnung, lädt uns ein, diese tief verwurzelte Angst mitfühlend zu akzeptieren.
Hast Du Dir jemals bewusst Gedanken über Deinen eigenen Tod gemacht und darüber, wie Du sterben möchtest?
Wie möchtest Du die Zeit gestalten, die Dir bleibt?
Worin liegt der Sinn Deines Tuns?
Was gibt Deinem Leben Sinn?
Lebe vor dem Tod – morgen kann es dafür zu spät sein.
Ein ausbalanciertes Wasser-Element schenkt uns inneren Frieden, klare Gedanken und die Fähigkeit, flexibel auf Veränderungen zu reagieren, ohne unsere Stabilität zu verlieren. Diese innere Gelassenheit verleiht uns Mut und Widerstandskraft, um schwierige Situationen mit Urvertrauen zu meistern.
Ist das Wasser-Element jedoch im Ungleichgewicht, zeigt sich dies oft körperlich: Kälteempfindlichkeit, Erschöpfung, Verspannungen im Rücken oder eine erhöhte Anfälligkeit für Blasenbeschwerden. Eine geschwächte Nieren-Energie beeinträchtigt auch andere Lebensbereiche: der Schlaf wird unruhig, der Geist missmutig und die körperliche Vitalität sinkt. Negative Emotionen wie Angst und Unruhe nehmen zu, wodurch es schwer fällt, Haltung und Zuversicht zu bewahren.
Tipps zur Stärkung Deines Immunsystems, findest Du in meinem Herbstblog. Die Bedeutung von ausreichend Schlaf, einer ausgewogenen Ernährung, regelmäßiger Bewegung und gezielter Entspannung kann gar nicht oft genug betont werden. Die winterliche Zeit des Rückzugs bietet eine ideale Gelegenheit, um durch kleine Rituale und neue Gewohnheiten mehr Selbstfürsorge zu praktizieren und neue Energie zu tanken. Hier sind einige Anregungen, um das Fließgleichgewicht zwischen Ruhe und Aktivität zu bewahren:
Der Winter lädt uns ein, in tiefer Selbstreflexion zu wachsen. Das Wasserelement macht uns bewusst, dass Flexibilität und Stabilität keine Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig ergänzen. In der Stille dieser Zeit liegt die Möglichkeit, Ängsten zu begegnen, Ballast loszulassen und Vertrauen in den natürlichen Fluss des Lebens zu finden.
Wenn wir uns dem natürlichen Rhythmus hingeben, schaffen wir Raum für Regeneration, Klarheit und Lebensfreude.
Mögen wir die ruhige Jahreszeit nutzen, um für unsere innere Stärke zu sorgen und im Frühling neu aufzublühen – voller Vertrauen und in tiefer Verbindung mit uns selbst.
Erstfassung 6. Dezember 2019, Überarbeitung 18. November 2020, Aktualisierung 25. November 2024
Coverfoto: Zoltan Tasi, unsplash; Herz: Nihal Demirici, unsplash