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Wenn ein Kind zu Sternen reist

Wenn ein Kind zu den Sternen reist

Wie Yoga mir geholfen hat, das Unfassbare zu ertragen und sogar wieder Lebensfreude zu entfalten.

Der Tod gehört zum Leben – das Leben fließt weiter, ein natürlicher Kreislauf von Werden und Vergehen.
Den Tod des eigenen Kindes anzunehmen und in liebevoller innerer Verbindung zu bleiben, erfordert allerdings einen unvorstellbaren Kraftakt.
Dieser Beitrag ist meiner Tochter Flora Sophia gewidmet – für immer in meinem Herzen – sowie allen Sternenkindern, betroffenen Eltern und Angehörigen. 

Sternenkind – ein funkelnder Stern am Himmel als Lichtblick im Dunkel der Trauer

Sternenkind ist die liebevolle Bezeichnung für ein Kind, das nicht lebend auf die Welt gekommen ist – und doch hat es als Mensch existiert.
Die poetische Wortschöpfung Sternenkind weckt in Anlehnung an „Der kleine Prinz“ von Antoine des Saint-Exupery die Assoziation, dass das Kind „den Himmel erreicht hat, noch bevor es das Licht der Welt erblicken durfte“.
Entgegen den versachlichenden Begriffen von Fehl- und Totgeburt wird damit auch die Bedeutung des Kindes hervorgehoben.

Eltern, insbesondere viele Mütter, entwickeln zum ungeborenen Kind eine intensive Bindung. Sie lieben ihr Baby nicht erst, wenn es auf die Welt gekommen ist. Wie kurz die gemeinsame Zeit auch war, sie haben es bereits ins Herz geschlossen und sich eine gemeinsame Zukunft ausgemalt. Mit dem Tod dieses kleinen Wesens sterben nicht nur die Wünsche und Hoffnungen für das Kind, sondern auch die Träume, Vorstellungen und Pläne für das eigene Leben. 

Unsere Tochter war ein Wunschkind. Der Name Flora Sophia bedeutet die Göttin des Frühlings und der Weisheit.
Meine Schwangerschaft war wunderbar, ich wurde weder von Übelkeit noch sonstigen Beschwerden geplagt. Ich war rundum glücklich. Erstmals in meinem Leben hatte ich das Gefühl, ganz zu sein. Während ich zunächst für das Baby alles tun wollte, was mir und damit uns gut tut, entwickelten sich aus der bedingungslosen Liebe zu meinem Kind eine mir zuvor völlig unvertraute Selbstachtung und ein Selbstwertgefühl, das ich nicht mehr aus meiner Leistung und der Anerkennung Anderer bezog.

Die schlimmste Nachricht in meinem Leben – der Albtraum beginnt

In der Sylvesternacht verspürte ich plötzlich ein ungutes, trauriges Gefühl. Bei einer Routineuntersuchung stellte meine Ärztin zwei Wochen später fest, dass das Baby kaum gewachsen war und schickte mich zur umgehenden Abklärung ins Krankenhaus:
Flora hatte einen schwerwiegenden „genetischen Defekt“ und war nicht lebensfähig. Es sei nur eine Frage der Zeit – Flora würde entweder in den verbleibenden Schwangerschaftswochen, bei der Geburt oder kurz danach sterben; und, so erklärte der Arzt weiter, sie würde aufgrund der Fehlbildungen des inneren Organsystems bereits leiden. Diese unfassbar traurige Nachricht traf uns im Jänner 2012 wie ein Blitz.
Was für ein überwältigender Schmerz, dem eigenen Kind zu wünschen, dass es ehestmöglich sterben kann, um nicht länger leiden zu müssen.

Die verbleibenden Wochen bis zu Floras stiller Geburt habe ich nur dumpf in Erinnerung: Meine traurigen Eltern und Schwester, die sich schon sehr auf Enkelkind bzw. Nichte gefreut hatten. Ein Forschungsprojekt-Antrag, für den ich irgendwie noch funktionierte. Lange Winterspaziergänge, als wollte ich Flora noch all meine Lieblingsplätze zeigen. Sozialer Rückzug, weil ich andere Menschen außer Philipp, meinem mittlerweile Ex-Mann, schwer ertragen konnte.
Als es dann soweit war, fühlte ich mich innerlich tot.

Im Krankenhaus bekam ich ein Einzelzimmer, fernab der frisch gebackenen Mütter und ihrer Babys; Floras Papa wurde mit aufgenommen. Hebammen und Ärzte begleiteten uns großteils einfühlsam.
Es ist ein Albtraum, sein Baby tot zur Welt bringen zu müssen. Obwohl die Geburt eingeleitet wurde, dauerten die Wehen lange 20 Stunden – als wollte ich Flora einfach nicht loslassen. Mein Krampfen und rapider Blutdruckabfall kurz vor der Geburt waren ein schwacher Versuch, meinem Kind zu folgen; doch die Ärzte ließen mich nicht.

Bewusst und liebevoll Abschied nehmen, Andenken schaffen

Grundsätzlich wird Eltern freigestellt, ob sie ihr Kind sehen und in den Arm nehmen wollen, was grundsätzlich empfohlen wird. Manche schaffen das nicht und bereuen es später. Dieser Abschied ist die einzige Zeit nach der Schwangerschaft, die Eltern gemeinsam mit ihrem Kind verbringen können.
Für mich war ohnedies klar, dass ich mein Baby zärtlich berühren, streicheln und halten wollte. Ich habe es gewaschen, eingecremt und in das eigens mit meiner Mama angefertigte Tuch gehüllt. Eine Wiege wurde bereit gestellt und wir konnten Flora noch über Nacht am Zimmer behalten.
Das Pflegepersonal hat eine Namenskarte gestaltet, mit Größe, Gewicht, Geburtsdatum und Uhrzeit sowie Floras Fußabdruck. Heute bin ich dankbar, dass ich mich überzeugen ließ, dafür auch ein Foto als wichtiges Andenken machen zu lassen. Für viele Eltern und Großeltern ist ein Foto das einzig greifbare Erinnerungsstück an das Baby, sowie ein Zeugnis, dass ihr Sternenkind „existiert“ und einen Platz haben darf - in ihrem Herzen und im sozialen Umfeld.

Aus dem Krankenhaus ohne mein Kind entlassen, konnte ich nur mühsam einen Fuß vor den anderen setzen.
Nun galt es auch noch, mich mit organisatorischen und bürokratischen Fragen der Trauerfeier und letzten Ruhestätte auseinander zu setzen. Ein Gemeinschafts- bzw. Kindergrab war für uns keine Option. Schöne Alternativen zum Friedhof sind in Österreich nur eingeschränkt möglich, zudem hat jedes Bundesland eine andere Regelung. Wir haben uns für eine Feuerbestattung entschieden. Das feierliche, traurig-schöne Bild vom kleinen Kindersarg im Verabschiedungsraum des Bestattungsunternehmens habe ich noch vor mir. Musik von Leonard Cohen und Les Choristes hatte ich eigens dafür zusammengestellt – Titel, die mich auch heute noch zu Tränen rühren können.
Mein Wunsch, Flora in ihrem Sarg eigenhändig ins Krematorium zu tragen und zu warten, bis der Rauch in den Himmel steigt, entstammte leider einer realitätsfremden Vorstellung eines würdevollen Abschieds. Stattdessen traf ich in Begleitung meines Mannes und meiner Eltern auf einen entsetzlichen Ort und Betriebswart: „Es dauert noch, da liegt noch einer im Ofen drin“.
Diese Erfahrung hätte ich uns gerne erspart.

Den schmerzvollen Verlust verkraften und mit Yoga zurück ins Leben finden

Anfangs befand ich mich im Schockzustand, wie betäubt, sprachlos, antriebslos, leer. Ich war fertig mit der Welt, nichts interessierte mich mehr. Es war, als hätte der Verlust mein ganzes Denken und Fühlen, mein Sein in Beschlag genommen, als würde mir der Schmerz den Lebensatem rauben.
Monatelang war ich von tiefer Traurigkeit erfasst.

Die Frage nach dem „Warum?“ habe ich mir nie gestellt, vielleicht weil mir klar war, dass ich darauf keine befriedigende Antwort bekommen würde. Möglicherweise blieb ich auch deshalb von Wut und Zorn verschont.
Ja, ich dachte ernsthaft an Suizid. Ich wusste, dass ich stark genug war und es schaffen würde, ohne mein Kind weiter zu leben. Die entscheidende Frage war, ob ich ohne Flora weiter leben wollte - ihr Tod erschien mir als „Preis“ für meine Lebenserfahrung inakzeptabel. Gut ein Jahr nach Floras Tod brachte ein Tauchgang, bei dem mir der Sauerstoff ausging, Klarheit: Dem Gedanken wie sich nun mein Tod gestalten könnte, stellte sich mein Lebenswille entgegen - und so tauchte ich auf. Möglicherweise entfalteten in diesem Moment auch die Kräuter meines Ayurveda-Arztes ihre Wirkung.

Körperlich fühlte ich mich erschöpft, kraftlos, hatte Schlaf- und Verdauungsstörungen. Vor Fleisch ekelte mir regelrecht, ich ernährte mich monatelang vorwiegend von Süßem; auch schien guter Wein das Leben erträglicher zu machen. Die Verbindung zu meinem Körper hatte ich gekappt, zu schmerzlich erinnerte mich sein Anblick an den Verlust meiner Tochter.
Mit einem Sternenkind einen Rückbildungskurs mit glücklichen Müttern zu besuchen, war undenkbar. Massagen meiner empathischen Hebamme und vor allem Yoga – den ich schon vor und während der Schwangerschaft praktizierte –  halfen mir, den eigenen Körper langsam wieder freundlich wahr- und anzunehmen und das Leben in ihm zu spüren.
Ich begann mich vom Schmerz frei zu atmen und mich für die Lebensfreude zu öffnen, die Schritt für Schritt zurückgekehrt ist. Obwohl mit Floras Tod auch die vormals glückliche Beziehung von uns Eltern zerbrach. Ich war zwar „vorgewarnt“, konnte damals aber nicht verstehen, dass Männer häufig „unsichtbar“ trauern, auch um die Frau in ihrem tiefen Schmerz nicht weiter zu belasten.

Über die Monate und Jahre gab mir Yoga inneren Halt, die Kraft und Beweglichkeit, eine neue Perspektive für mich und mein Leben zu entwickeln. Ich sehe wieder einen Sinn in meinem Leben und lebe dieses ganz bewusst. Zunehmend wage ich es, mich dem Fluss des Lebens anzuvertrauen. Mit gestärktem Selbstvertrauen und immer wieder zu erneuerndem Fokus auf das Wesentliche kann ich leichter (los)lassen, was mir nicht gut tut. Insgesamt bin ich achtsamer, entspannter und wohlwollender geworden und habe eine lebensbejahende Grundhaltung entwickelt, was sich auch positiv auf meine Mitwelt auswirkt. Ich fühle mich heute wohler denn je, und erlebe sogar Momente der Leichtigkeit und des inneren Frieden – nicht zuletzt weil Ego und Verstand nicht mehr die Oberhand haben.

Trauer ist eine individuelle Erfahrung, die viel Zeit benötigt – bitte keine Rat"schläge"

Selbst wenn heute Beglaubigung und Bestattung selbstverständlich sind und es weit mehr Informationen und Unterstützungsangebote gibt, stößt Trauer um ein Sternenkind vielfach auf Unverständnis. In unserer Gesellschaft, die das Sterben und den Tod gerne verdrängt, gilt es, schnell zu vergessen bzw. die Trauer zu verstecken und in einer unmenschlichen Arbeitswelt seine Leistung zu erbringen, zu funktionieren. Doch die zutiefst erschütternde, traumatische Erfahrung einer stillen Geburt wirkt körperlich, psychisch, im Verhalten und auf sozialer Ebene nach.

Jeder Mensch trauert anders. Es ist wichtig, dabei gut in sich hinein zu hören und den eigenen Weg zu finden. Die Eine braucht viel Zeit und zieht sich zurück, die Andere wünscht sich Unterstützung durch Außenstehende (Familie, Freunde, Kollegen, professionelle Trauerbegleitung) oder möchte sich mit anderen Betroffenen austauschen. Der Nächste lenkt sich geschäftig im Außen ab und vermeidet die Konfrontation mit der Trauer. Jeder Mensch bewältigt den Verlust eines geliebten Menschen anders, leistet mehr oder weniger aktive Trauerarbeit und hat seine persönlichen Ressourcen bzw. Kraftquellen, um sich an die neue Lebenssituation anzupassen bzw. neu zu orientieren.
Wer kann beurteilen, was normale, gesunde Trauer ist und was pathologisch? Psychologische Modelle mit vier, fünf oder sieben Trauerphasen, die ein klares Endes der Trauer versprechen, gelten mittlerweile als nicht hilfreich und überholt; ebenso das Traueraufgabenmodell, laut dem es die emotionale Bindung zu lösen gilt. Auch das duale Prozessmodel vermag die Komplexität von Trauer nicht ganzheitlich zu erfassen. Der Verlust bleibt - und Trauer ist die passende Emotion dafür. Gelindert wird diese, in dem das verstorbene Kind seinen Platz bekommt. Erst mit dem „Continuing Bonds“-Modell (D. Klass) wächst das Verständnis, dass es „normal“ ist, eine innere Verbindung mit den Toten zu halten.

Wer Trauernde begleiten möchte, sollte mit Rat„schlägen“ sehr vorsichtig sein. Um Mitgefühl und Unterstützungsbereitschaft zu zeigen, reicht es meist, Sternenkind-Eltern wissen zu lassen, dass man da ist und bei Bedarf Alltagsaufgaben wie Behördengänge abnimmt oder nährende Mahlzeiten kocht. Auch gemeinsame Aktivitäten und ein Umgebungswechsel können gut tun. Oft hilft einfach eine Berührung, die Halt und Geborgenheit vermittelt, eine Umarmung ganz ohne Worte oder nur zuzuhören und die Tränen auszuhalten.
Die richtigen Worte vermag ohnedies kaum jemand zu finden. Wenn auch tröstlich gemeint, wirken Worte für die Betroffenen häufig verletzend. Bitte vermeide insbesondere Sätze wie die folgenden: Ich weiß, wie Du Dich fühlst. Du musst jetzt stark sein. Schau nach vorne. Du bist noch jung und kannst noch Kinder bekommen. Du hast ja schon ein gesundes Kind. Es war das Beste für das Kind. Besser so, als ein Leben mit behindertem Kind. Die Zeit heilt alle Wunden. Du musst endlich loslassen...

Wichtig ist, die Elternschaft anzuerkennen und den Betroffenen ihre Form der Trauer wertfrei zuzugestehen und auch, dass der Schmerz zu verschiedenen Momenten im Leben wieder hochkommt.
Ich hatte etwa lange kein Bedürfnis nach sozialen Kontakten. In den ersten Jahren wurde mir schon beim Anblick einer Schwangeren oder eines Kinderwagens ganz schwer ums Herz. Ich bitte um Verständnis, dass ich jahrelang kein anderes Baby in den Arm nehmen konnte und schmerzhafte Erinnerungen durch Mädchen in Floras jeweiligem Alter mied. Bis heute nehme ich nicht gerne an Unterhaltungen teil, die sich nur um die Kinder drehen.

Liebe nicht betroffene Leserin, lieber Leser, überlege Dir bitte künftig vor der unbedarften Frage, ob bzw. warum Dein Gegenüber kein Kind hat oder keine Kinder will, ob Du mit einer ehrlichen und Dir vielleicht unangenehmen Antwort umgehen kannst. Denn zu antworten, man hätte kein Kind, bedeutet für die Eltern von Sternenkindern, dieses zu verleugnen.

Verändert, demütig und dankbar weiter leben

Flora wäre heuer 12 Jahre geworden. Ihr Leben nicht begleiten zu dürfen, tut immer noch weh.
Nach einer langen intensiven Trauerzeit kommt meine Trauer heute in sanfteren Wellen - mit der Zeit haben Häufigkeit, Dauer und Intensität nachgelassen. Ich habe gelernt, mit der liebevollen Erinnerung an mein Kind zu leben. Der Tod meiner Tochter hat mir schmerzlich vor Augen geführt, dass das Leben nicht planbar und kontrollierbar ist.
Ich durfte aber auch erfahren, dass Leid ein wertvoller Impuls für eine nötige, positive Veränderung sein kann. Nach Floras Tod habe ich mein gesamtes bisheriges Lebensmodell in Frage und mich völlig neu aufgestellt: Fokus, berufliches Engagement, Lebensmittelpunkt und Partnerschaft. Es dauerte viele Jahre, bis ich es wagte, mein Herz wieder für die Liebe zu öffnen; zu groß war die Angst vor dem schmerzvollen Verlust.
Heute weiß ich, das Leben ist nicht gegen mich und ich habe mir die Erlaubnis gegeben, glücklich zu sein.

Auch wenn Flora Sophias Verweilen auf der Erde nur kurz war, hat sie tiefe Spuren in meinem Herzen hinterlassen und mir geholfen, meinen Weg zu finden und insgesamt achtsamer, gelassener und freudvoller zu leben. Dafür bin ich unendlich dankbar. 

Weltweite Gedenktage für (früh)verstorbene Kinder

Am Tag der Sternenkinder, dem 15. Oktober, stellen Menschen rund um die Erde jedes Jahr um 19 Uhr für eine Stunde Kerzen sichtbar ins Fenster, um jenen Kindern zu gedenken, die während der Schwangerschaft, bei der Geburt oder kurz nach der Geburt gestorben sind. Wenn die Kerzen in der einen Zeitzone erlöschen, werden sie in der nächsten entzündet, so geht in 24 Stunden eine Lichterwelle um die Welt.
Am „Worldwide Candle Lighting“, dem zweiten Sonntag im Dezember, wird allen verstorbenen Kinder gedacht.
Natürlich sind auch nicht betroffene Menschen eingeladen, daran teilzunehmen.

Möge das Licht der Sternenkinder uns immer leuchten.

Fotos: Pixabay

@ 6. Dezember 2018, Aktualisierung 15. Oktober 2024