Das Osterfest symbolisiert die Wiederauferstehung. Was das bedeutet, „durfte" ich erfahren: Großes Leid, wie der Tod eines geliebten Menschen, kann einen Entwicklungsschub auslösen: Du erkennst, dass Du das Leben nicht kontrollieren kannst und beginnst zu erforschen, was in Deinem Leben wirklich Bedeutung hat und fokussierst infolge darauf. Und ja, eines Tages kannst Du auch wieder Dein Leben – vielleicht sogar mehr als jemals zuvor – bewusst und entspannt genießen.
Auf dem Yogaweg lernst Du Dich selbst besser kennen, entdeckst die Wurzel Deines Leidens. Den Kleshas, also leidvollen Anspannungen auf körperlicher, gedanklicher und emotionaler Ebene ist dieser Blogbeitrag gewidmet. Du erfährst, wie es gelingen kann, Deinen Problemen und den Veränderungen im Leben stabiler und entspannter zu begegnen und Dich mit Dir selbst und dem Leben wohlzufühlen, anstatt Dein Leiden selbstmitleidig zu rechtfertigen und Dir das Leben unnötig schwer zu machen.
Vielleicht bist Du wie ich mit dem Spruch großgeworden: Nur die Harten kommen durch und davon nur drei Prozent? Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, diesen Glaubenssatz loszulassen und Dich zu fragen: Darf es auch leicht gehen? Und dann spüre hin: Erlaubst Du Dir überhaupt ein gutes Gefühl – einfach so?
Es ist Deine Entscheidung, eine belastende Situation a) zu verändern oder b) zu verlassen oder c) diese ohne weiteren Widerstand zu akzeptieren. Mit Letzterem ist allerdings nicht gemeint, dass Du aufgeben sollst und auch nicht, dass Du alles akzeptieren musst, sondern „einfach“ die Dinge so anzunehmen, wie sie jetzt sind – anstatt sie persönlich zu nehmen. Probleme, Leid erschaffst Du aus der Ablehnung dessen, was ist – und was Du in diesem Moment nicht ändern kannst. Verstehe, dass jegliches Kämpfen gegen Dich selbst gerichtet ist. Du hast die Wahl zwischen Widerstand und Leiden oder Hingabe und inneren Frieden. Hingabe braucht Mut und das Vertrauen, das alles was geschieht, Deiner Entwicklung dient – auch wenn Du dies noch nicht verstehen kannst. Das Leben ist nicht gegen Dich.
Dich dem Fluss des Lebens anzuvertrauen, verändert nicht unmittelbar das was ist, sondern Dich. Denn eigentlich liegen die Probleme und Lösungen nicht in der äußeren Welt, sondern in Deinem Inneren. Anstatt also weiterhin zu versuchen, im Außen zu manipulieren und optimieren, kannst Du mittels regelmäßiger und adäquater Yogapraxis – bewusster Atmung, achtsamen Körperübungen und Meditation – lernen, Dich nach innen zuwenden.
Yoga zielt darauf ab, Dich selbst besser kennenzulernen und zu erkennen, wer Du (nicht) bist, was Du brauchst und wie Du Dich in der Welt zurechtfinden kannst. Du entdeckst, dass Du mehr bist als Deine Sinne, über die Du die Welt erfahren kannst; mehr als Dein sterblicher Körper; mehr als Dein Geist (Deine Gedanken und Emotionen) und all Deine Rollen, Zuschreibungen und Geschichten.
Keine Frage, richtig gebraucht kann der Intellekt ein hervorragendes Instrument sein, um Deine Wahrnehmungen zu analysieren, strukturieren und zusammenzuführen. Wenn Du Dich allerdings mit Deinem Verstand identifizierst, gewinnt er Macht über Dich. Dabei versucht Dein Ego-Verstand das Jetzt zu vermeiden, schwelgt in der Vergangenheit oder malt sich die Zukunft aus. Doch ein zu viel Nachtrauern schöner oder schmerzvoller Ereignisse lassen Zorn, Bitterkeit, Bedauern und Depression entstehen; und zu viele Sorgen um das Morgen erzeugen Unruhe, Anspannung, Stress. So erschaffen Deine Gedanken Probleme und immer „neue“ Situationen, die diese Negativität nähren, zumal Du auch Menschen anziehst, die mit dieser negativen Energie mitschwingen (Resonanz).
Meist sehen wir die Dinge wie wir sind – und nicht wie sie sind. Auf Basis unserer Eindrücke und unbewussten Erfahrungen, unserer Konditionierungen, Urteile und oberflächlichem Wissen, sprich angesammelten, teils unüberprüften Informationen ohne eigenen Erfahrungswert nehmen wir die Welt höchst individuell wahr und verwechseln unsere subjektive Realität mit der absoluten Wirklichkeit, ungeachtet der Tatsache, dass das Leben ein fortwährender Transformationsprozess ist. Wir verstehen und akzeptieren nur, was in unser selbstgebasteltes Weltbild passt, werten und lehnen alles andere ab. Dass dies kein nährender Boden für Rücksicht, Mitgefühl und Verantwortung ist, zeigt sich in Coronazeiten besonders hässlich.
Nach indischen Weisheitstexten ist die Wurzel allen Leidens die Verwechslung der Wahrnehmung darüber was Du bist, mit dem was Du wirklich bist: Deiner wahren Natur oder Quelle Deines Seins, Deiner – unsterblichen – Essenz. Dieses reine Gewahrsein oder Bewusstsein (jna, purusha, atman), inneres Licht, Liebe, Stille oder welche Bezeichnung für das Unsagbare auch immer gewählt wird, es kann vom Verstand nicht erfasst werden. Doch gibt es eine „Königsübung“, um Klarheit zu schaffen: Durch regelmäßige Meditation klärt sich Dein Geist, Du fühlst Verbundenheit mit dem Leben und gewinnst Einblick in das größere Ganze. Menschen, die diese Einheitserfahrung gemacht haben, berichten von einem beglückenden Bewusstseinszustand inneren Friedens (samadhi).
ÜBUNG: Der Atem ist Ausdruck unserer Körperintelligenz und ein Tor zur Meditation. Komme in einen angenehmen, aufrechten, würdevollen Sitz oder in eine bequeme Rückenlage und schließe Deine Augen. Richte Deine Achtsamkeit auf Deinen Atem und damit Deine Sinne von der äußeren auf die innere Welt. Atme bewusst, fein, lang und tief. Wird Dein Atem ruhiger, folgt ihm der Geist und umgekehrt. Wenn Gedanken auftauchen und Gefühle triggern, dann lasse diese kommen und gehen wie Wolken am Himmel und kehre mit Deiner Aufmerksamkeit immer wieder zu Deiner Atmung zurück. Vielleicht kannst Du in der Stille Deine Verbindung mit dem größeren Ganzen fühlen. Verweile für einige Minuten und dann öffne sanft die Augen. Kehre mit einem wachen, friedlich konzentrierten Geist und entspannten Körper in Deinen Alltag zurück.
Aus der unklaren Wahrnehmung unseres Seins leiten sich vier weitere Leidensfaktoren ab: I) Ego, II) Verlangen, III) Abneigung und IV) Angst vor der Vergänglichkeit allen Seins:
Ein Ich-Gefühl ist in gewissem Maß existenziell; Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind gesund. Davon zu unterscheiden ist allerdings das Ego, das uns überhöht oder erniedrigt, das „will“ oder „nicht will “, erwartet, urteilt, polarisiert und Druck ausübt. Aus der Ich-Zentriertheit nehmen wir uns isoliert und getrennt von der Welt bzw. dem größeren Ganzen wahr. So suchen wir unser Glück im Außen. Wir geben Situationen, Menschen und Dingen eine Wertigkeit und damit die Macht, unser Wohlsein zu beeinflussen –, womit wir ständig zwischen Haben-Wollen und Vermeiden-Wollen (II und III) hin- und hergerissen sind.
REFLEXION 1: Mache Dir immer wieder bewusst, was, warum, mit wem und vor allem wie Du etwas tust. Reflektiere mit welchen Äußerlichkeiten Du Dich identifizierst, Dein Ego stärkst – und Deinem Selbst im Wege stehst: Mit Deiner Bildung, Deinen Auszeichnungen, Deinem Beruf, Deiner Macht, Deinem Einkommen, Deinem Besitz und Statussymbolen, Deiner Rolle als Mutter/Vater, Deinem sozialen Umfeld, Deinem Aussehen,...
Unser dominierendes Wirtschaftssystem lebt davon: Aus einem (suggerierten) Mangelgefühl heraus müssen wir begierig immer mehr haben und geraten in Abhängigkeit und Suchtverhalten, was uns und unsere Mitwelt leiden lässt. Angenehme Sinneseindrücke und schöne Erinnerungen nähren die Erwartung, dass etwas so bleiben bzw. sich genau so wiederholen soll. Da die einzige Konstante im Leben die Veränderung ist, erwächst daraus Leid.
Ich plädiere hier keineswegs für ein Genuss-befreites, wunschloses Leben in Askese, sondern dafür, herauszufinden, was Du wirklich für ein gutes Leben brauchst. Kannst Du Dich an den schönen und sinnlichen Seiten des Lebens erfreuen, ohne Dich daran festzuklammern: Loslassen aus der Erkenntnis, dass Anhaften Leiden schafft?
REFLEXION 2: Wann immer Dich ein starkes Verlangen überkommt, hinterfrage es: Will bzw. brauche ich das jetzt wirklich? Tut es mir gut? Welcher Wunsch bzw. welches Bedürfnis steckt dahinter?
Da wir unangenehme Erfahrungen und Empfindungen nicht nochmals erleben wollen, lehnen wir Situationen bzw. Personen, die wir damit in Verbindung bringen, ab. Verachtung, Neid und Missgunst, Böswilligkeit, Ärger, Zorn und Hass lösen eine Abwehrhaltung aus und führen zu körperlichen und geistig-seelischen Anspannungen und Krankheiten.
Ein genauerer Blick auf Konflikte mit Nachbarn, Kolleg/innen oder in der Familie spiegelt häufig unsere nach außen verlagerten triebhaften, leidenden Schattenseiten. Werden diese nicht integriert, kann aus der geistigen Barriere (religiöser) Fanatismus, Fremdenfeindlichkeit, Krieg und Terror erwachsen.
REFLEXION 3: Warum löst eine bestimmte Situation bzw. dieser Mensch so starke Emotionen in Dir aus? Was und warum lehnst Du etwas bzw. jemanden ab – und was hat das mit Dir zu tun? Was wäre eine gegenteilige, freundliche Entsprechung Deiner Gedanken und Gefühle?
Wie wäre es, eine negative Betrachtungsweise und die damit verbundenen unguten Emotionen (Verzicht, Unzufriedenheit, Ablehnung, Wut, Ohnmacht) nicht weiter zu nähren, sondern in eine neutrale innere Haltung mit dem was ist bzw. Gelassenheit gegenüber dem Auf und Ab des Lebens, in Vertrauen und Hingabe zu wandeln und zufrieden, dankbar für das zu sein, was Dir das Leben schenkt? Mehr dazu, wie Du Deine Wirklichkeit mit Deinem Fokus gestaltest, findest Du in meinen BLOGBEITRAG FRÜHLINGSERWACHEN (2).
Flauer Magen, flacher Atem, weiche Knie – Angst hält uns davon ab, unnötige Risiken einzugehen. Die Angst vor Veränderung, Verlust, Schmerz, Krankheit, Alter und Tod kann Dich allerdings handlungsunfähig und krank machen. Anstatt Ängste, Unsicherheit und Zweifel zu verdrängen, kannst Du innehalten, tief ausatmen und Dir innen Halt geben. Gedanken und Emotionen kommen – und gehen! Versuche diese bewusst wahrzunehmen, wohlwollend zu untersuchen und anzunehmen – dann lassen sie Dich wieder los. Mehr dazu im Blogbeitrag WINTERZEIT.
REFLEXION 4: Frage Dich, von welchen Gedanken Deine Angst hervorgerufen wurde, ob sie begründet ist und was es braucht, damit sich Deine Unsicherheit abbauen bzw. wandeln kann.
Kleshas werden Dir im Lern-Spiel-Feld des Lebens immer wieder unterschiedlich stark begegnen. Es geht folglich darum, achtsam und präsent zu sein und eine innere lebensbejahende Haltung zu kultivieren. Nun geht es nicht um ein oberflächliches „positives Denken“, ein Leugnen, Unterdrücken oder Schönreden dessen was schmerzt; zumal es manchmal Schmerz braucht, um wach zu werden. Vielmehr bedarf es einer Neuausrichtung, eines Annehmens des Unvermeidlichen und Loslassen dessen, was Leid verursacht.
Mit fortschreitender Yoga-Praxis verfeinert sich die Wahrnehmung Deiner Empfindungen, wertenden Gedanken, positiven und negativen Emotionen sowie bislang unreflektierter Gewohnheiten. Du kannst leidvolle Anspannungen immer besser erkennen, verstehen und Dich immer weniger davon beherrschen lassen, zumal Du mehr auf ein für Deine Entfaltung förderliches Umfeld achtest. Schritt für Schritt besinnst Du Dich Deiner Ressourcen, stabilisierst Dich als Ganzes und kannst Dich Deinen Problemen mit Klarheit und Gleichmut stellen und Selbstwirksamkeit erfahren.
Intellektuelle Einsicht durch das Studium von Weisheitstexten und kontinuierliche, manchmal durchwegs schmerzhafte, Selbsterforschung (svadhyaya) reichen dafür nicht aus. Yoga muss praktiziert, gelebt, unmittelbar erfahren werden – mit einem klaren, offenen Geist und einem mutigen, wohlwollenden Herz. Zum Yoga gehören Selbstdisziplin, Engagement und Ausdauer, die Reinigung und Entgiftung Deines Lebens (siehe FRÜHLINGSERWACHEN (1)) und eine besondere Qualität des Handelns: Hingabe (ishvarah-pranidhana). Das erfordert wiederum Verhaltensänderungen auf körperlicher, gedanklicher, emotionaler und zwischenmenschlicher Ebene. Gehe in kleinen Schritten voran und bleibe dabei liebevoll und geduldig mit Dir. Ein achtsamer Umgang mit Deinem Körper, Atem, Geist und Deinem Verhalten ist insbesondere in herausfordernden Situationen nur durch stetes Bemühen und bewusstes Üben mit einer gleichmütigen inneren Haltung (abhyasa und vairagya) erreichbar. Auf der Yogamatte übst Du diese Qualitäten für den Alltag.
Zusammengefasst: Mache Dich mit Deinen Denk- und Verhaltensmustern und den Kleshas vertraut; bleibe wach. Glück, Zufriedenheit und innere Freiheit kannst Du nicht im Außen, in materiellen Dingen oder in Beziehungen finden. Erforsche Dein Inneres, nur dort Du findest Du, was Du nie verloren hattest.
Du merkst, dass Du klar siehst und frei bist, wenn Du ein tiefes Gefühl von wacher Ruhe und innerem Frieden und keinerlei Druck oder Zwang zu reagieren, keine Anspannung und Aufregung mehr verspürst.
Nach dem Yoga Sutra des Patanjali geht Befreiung noch weiter: Du hast alle Identifikationen mit der Welt, auch mit dem reinen Bewusstsein losgelassen und gehst über alles hinaus – völlige Transzendenz. Ob das für alle Menschen realistisch ist, sei dahingestellt. Ich bekenne, dass ich dies bislang nicht erfahren habe und vielleicht auch nie werde.
In der „Zwischenzeit“ respektiere und genieße ich das Leben! Lebe weniger im Kopf, atme bewusst und komme noch mehr ins Fühlen. Bleibe achtsam und gegenwärtig. Halte inne und entscheide mich mutig und möglichst frei von Ego, Verlangen bzw. Ablehnung, der Situation angemessen zu handeln, wo es erforderlich ist bzw. es gut sein und den Dingen ihren Lauf zu lassen.
P.S.: Eines möchte ich bei all dem großartigen Potential von Yoga klarstellen: Yoga kann kein Heilsversprechen geben und ersetzt bei schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen keinesfalls Arzt oder Psychotherapeutin.
Karven, Ursula / Skuban, Ralph: Loslassen – Yogaweisheiten für dich und überall. Arkana Verlag, München 2013.
Skuban, Ralph: Die Psychologie des Yoga, Arkana Verlag, München 2014.
Sriram,R.: Neun Schritte in die Freiheit. Theseus Verlag, Berlin 2001.
Sukumar: upasana, das gute Gefühl. Editions Heuwinkel, Carouge/Genève 2001.
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Veröffentlichung Mai 2019; Überarbeitung März 2021